MAX FRISCH: ALS DER KRIEG ZU ENDE WAR
Im Herbst 1999 wurde am Deutschen Studio der Petersburger Staatlichen Theaterakademie mit Schauspiel- und Regiestudenten aus dem dritten und vierten Studienjahr (Klasse Prof. Krasovskij) zum ersten Mal ein Projekt in deutscher Sprache realisiert. Meine Dozentur wurde vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in St. Petersburg aus Mitteln des Fonds für Russlanddeutsche finanziert und mit großem Engagement ermöglicht.
Uns standen insgesamt nur fünf Wochen zur Verfügung. Aus mehreren Gründen wählte ich dieses vergessene Stück von Max Frisch, dessen Aktualität längst verblasst schien und das doch die wundesten Punkte des 20. Jahrhunderts berührt.
Die russischen Studenten waren mit Filmen über „deutsche Faschisten“ groß geworden, Feindbilder und Klischees von Gut und Böse waren erzogen, das Weltbild festgezurrt. Vom Widerstand im Dritten Reich wussten sie nichts, hatten weder von den Geschwistern Scholl, Graf Stauffenberg oder dem Pazifisten Carl von Ossietzky gehört, vom Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung hatten sie keine Ahnung und von den Vergewaltigungen beim Einmarsch der Roten Armee auch nicht. Und nun: Ein Autor aus der Schweiz schildert eine authentische Geschichte aus der «Russenzeit» – die Liebesbeziehung zwischen einem russischen Obersten und einer deutschen Frau. Die Geschichte einer Ausnahme freilich. Mit der schicksalhaften Begegnung von Deutschen, Russen und einem Juden im Mai 1945 wirft Max Frisch die Frage nach «Mensch oder Unmensch» auf, die an keiner Nationalität festgemacht werden kann. E ist ein Stück über Liebe, deren Antagonismus Angst heißt, eine Liebe, die entstehen kann, gerade weil keiner die Sprache des anderen versteht.[…]
An einige Stellen läßt Frisch gleichsam das Geschehen von einer höheren Perspektive aus kommentieren. Diese „Chroniken“, jede unterschieden in Stil und Inhalt, waren strukturbildend für die Inszenierung. Wir hielten den Gang der Haupthandlung an, fanden die Hintergrundhandlung der vom Autor „vorgeschlagenen Situationen“, zeigten Etüden mit einer zweiten und dritten Agnes, Horst oder Stepan. Darüber hinaus bauten wir drei weitere Intermedien mit dokumentarischem Charakter ins Stück ein, die in Rückblenden die Zeit erhellten: eine Kabarettszene, eine studentische Protestszene der „Weißen Rose“ und eine jüdische Szene mit originalen Liedern aus dem Warschauer Ghetto. […]
Mein Anliegen war, möglichst vielen Studenten die Chance zum Spielen zu geben. Vier der Regiestudenten waren bereit, jeweils einen Akt verantwortlich zu proben, ein fünfter saß später mit am Tonbandgerät. So waren schließlich 28 Studenten in das Projekt eingebunden. In jedem der vier Akte spielten verschiedene Studenten die Hauptrollen, jeder brachte eine neue Nuance, eine andere Färbung ins Spiel: work in progress, eine lebendige Werkstatt, in der gelernt und ausprobiert werden durfte, soweit es die knappe Zeit zuließ.
Pädagogen der St. Petersburger Theaterakademie halfen uns, Bewegungsabläufe zu finden und den Gesang professionell zu schulen und auch bei Einzelproben, wofür ihnen an dieser Stelle noch einmal herzlich und ausdrücklich gedankt sein soll: Aljona Sturova, Ljubov Subbotovskaja, Aleksandr Anisimov und Michail Il’jin. Die Endproben nahm Professor Krasovskij selbst in die Hand. Es gab zwei Werkstattaufführungen im übervollen Auditorium, ungeachtet dessen, dass kaum jemand im Publikum Deutsch verstand. Bühnenbildner Sergej Smirnov hatte unter provisorischsten Bedingungen und ganz ohne Budget für uns einen Spielraum geschaffen, der das alles möglich machte. Danke an alle!
März 2000 Ruth Wyneken