Bevor man ein Werk erarbeitet, ist eine intellektuelle Vorbereitung notwendig und unerlässlich. Man muss alles analysieren und dann wieder zusammensetzen, zusammenfügen. Warum nicht so? lautet die erste, entscheidende Frage, die man sich zu stellen hat.
Gideon Kremer
Dasselbe gilt für Theatertexte. Die Methode zur theoretischen und praktischen Analyse von Stücken, die in der russischen Theaterschule (ausgehend von Stanislavskij) bis heute gelehrt wird, bietet hervorragende Werkzeuge, um Texte im Hinblick auf ihre szenische Umsetzung dramaturgisch und theaterpraktisch zu analysieren.
Wir machen „archäologische Ausgrabung“ und systematische Forschung am Theatertext.
Wozu schrieb Cechov eigentlich die MÖWE? Geht es um die verstrickten Beziehungen zwischen Kostja und seiner Mutter Arkadina, um seine unglückliche Liebe zu Nina, um das Scheitern eines jungen Künstlers, dem die Alten keinen Raum geben oder überhaupt um die Frage nach dem eigenen, individuellen Verhältnis zur Kunst, das sich jede Generation neu erobern will und muss? Wie steht jede der Figuren dazu?
Um das große Thema, den Sinn eines Stückes zu finden, bedarf es detaillierter Arbeit. Was für Themen spielen überhaupt eine Rolle, worin besteht der Hauptkonflikt des Stückes, wo sind „Ereignisse“, wie ist die Kette der „Ereignisse“ (Ausgangsereignis, Hauptereignis usw.) gebaut, was treibt die Figuren ins Stück, welche „vorgeschlagenen Umstände“ gibt der Autor vor, was setzt die Handlung in Gang, wie sind die Figuren angelegt („Samenkorn“ oder „Kern“ der Figuren)? Und: Sind sie Träger von Ideen, die verhandelt werden? Oder stehen menschliche Beziehungen im Vordergrund? Mit der Klärung dieser und weiterer Fragen legen wir immer tiefer die Struktur bildenden Bausteine, das Baugerüst eines Textes frei und nähern uns dem alles verbindenden Sinn, dem übergeordneten Thema.
Stücktextanalysen mit dieser Methode bringen das Denken in Bewegung und machen Spaß. An russischen Theaterhochschulen werden sie von der „Etüde“ begleitet und szenisch im „handelnden Analysieren“ erprobt: Ausschnitte und einzelne Szenen werden von Regiestudenten mit Schauspielstudenten erarbeitet. Sie werden auf ihre Stimmigkeit hin laufend korrigiert.
Das Vermitteln des fremden Kulturumfeldes – in Deutschland des russischen, in Russland des deutschen – geschieht im Arbeitsprozess wie nebenbei, wird aber da, wo es notwendig ist, vertieft und differenziert behandelt.